Unsere Identität soll ausgelöscht werden

Ihre Großmutter hat Shahnura Kasim nur einmal gesehen. Sie ist in einem chinesischen Umerziehungslager. Die Münchner Schülerin setzt sich gegen die Unterdrückung der Uiguren ein. Ob sie sich damit in Gefahr bringt? Sie weiß es nicht.

Süddeutsche Zeitung, 24.10.2021 

Mehr als 12 000 Likes. Shahnura Kasim zeigt Familienfotos in die Kamera. Oma, Tante, Onkel. Sie will auf Instagram nicht ihre Familie vorstellen. Sie hat dringlichere Gründe. In der Bildunterschrift steht: Wo sind meine Verwandten? Shahnura, 18-jährige Schülerin aus München, ist Uigurin. Ihre Großmutter befindet sich in einem chinesischen Umerziehungslager. Auf Instagram und TikTok macht Shahnura auf das Schicksal ihrer Verwandten und das vieler anderen Uiguren aufmerksam. In China gilt die uigurische Bevölkerung als Minderheit und wird seit Jahren von der chinesischen Regierung unterdrückt. "Warum schauen alle weg?", fragt Shahnura.

Shahnura will nicht wegschauen. Sie organisiert Demonstrationen. Sie informiert Tausende User in den sozialen Netzwerken über die Situation der Uiguren. Ob sie sich damit in Gefahr bringt? Sie weiß es nicht. Schweigen kommt für sie trotzdem nicht in Frage.

"Was? Uigurin? Ich dachte, du wärst Türkin!" Solche Sätze hört Shahnura öfter

Umerziehungslager? China? Uiguren? Nicht allen ist klar, um was es geht, wenn diese Wörter in einem Kontext genannt werden. "Was? Uigurin? Ich dachte, du wärst Türkin!" Solche Sätze hört Shahnura öfter. Nicht nur in den sozialen Netzwerken ist die Schülerin aktiv, sondern auch auf der Straße. Sie organisiert friedliche Demonstrationen in der Innenstadt, um auf die Unterdrückung ihres Volkes aufmerksam zu machen.

Die Uiguren leben in der Provinz Xinjiang, eine autonome Region im Nordwesten Chinas. Dieses Gebiet wird von den Uiguren auch als Ostturkestan bezeichnet. Die uigurische Sprache gehört zu den Turksprachen. "Außerdem sind fast alle Uiguren Muslime. Der Islam ist unsere Religion", sagt Shahnura. Ihre Eltern sind aus Xinjiang geflüchtet. Sie ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, besucht die Abschlussklasse eines Münchner Gymnasiums. "Meine Großmutter habe ich das erste Mal gesehen als ich elf war", sagt sie. Das war während eines Urlaubs in der Türkei. "Kurz vorher hat die chinesische Regierung Pässe an die Uiguren verteilt", sagt Shahnura.

Eine Reise in die Türkei könnte Shahnuras Großmutter zum Verhängnis geworden sein

Die Reise in die Türkei könnte ihrer Großmutter zum Verhängnis geworden sein, denn danach folgte der Kontaktabbruch. "Meine Oma hat uns danach gesagt, dass wir nicht mehr anrufen sollen, dass es ihr gut geht", sagt sie. Über eine andere Verwandte fand Shahnuras Familie heraus, dass ihre Großmutter in ein Umerziehungslager gebracht worden ist. "Zwischenzeitlich wurde sie entlassen, vermutlich weil sie gesundheitliche Probleme hatte. Mittlerweile wissen wir aber, dass sie wieder dort ist und mein Onkel in einem Lager ermordet wurde", sagt sie. Eine Auslandsreise genügte offenbar als Grund zur Inhaftierung.

Menschenrechtsorganisationen verweisen schon lange darauf, dass in China eine der größten Menschenrechtsverletzungen der Gegenwart stattfindet. Vor zwei Jahren belegten die China Cables, ein Leak von geheimen Dokumenten der chinesischen Regierung, die willkürliche Inhaftierung, Folter und Indoktrinierung der Uiguren. "Es gibt Satellitenaufnahmen aus Xinjiang, auf denen die Lager zu sehen sind", sagt Shahnura. Eva Stocker vom Weltkongress der Uiguren, der seinen Sitz in München hat, sagt: "Laut der UN befinden sich eine Million Uiguren, Kasachen und andere turkstämmige Gruppen in den Internierungslagern. Diese Zahl stammt aus dem Jahre 2018. Die chinesische Regierung hat seitdem weitere Internierungslager errichtet, sodass wir basierend auf Satellitenbildern und anderen Quellen von mindestens drei Millionen Inhaftierten ausgehen." Ziel der chinesischen Führung ist es, die Uiguren zu assimilieren. Das sagen Experten und Menschenrechtsorganisationen. Uigurischen Männern ist es beispielsweise verboten, Bärte zu tragen, die Menschen dürfen ihre Sprache nicht sprechen und schreiben, werden mit Han-Chinesen zwangsverheiratet und können ihre Kultur und Religion nicht frei ausüben. "Unsere Identität soll ausgelöscht werden. Das ist ein Genozid", sagt Shahnura.

Um ein weltweites Zeichen zu setzen, plädiert Shahnura für den Boykott der Olympischen Spiele in China

Um ein weltweites Zeichen zu setzen, plädiert Shahnura für den Boykott der Olympischen Spiele in China. Regelmäßig demonstriert sie in der Münchner Innenstadt. "Manchmal habe ich das Gefühl, dass wenige Leute kommen. Auch aus der uigurischen Community. Das ist schade."

In Deutschland leben etwa 1500 Uiguren, circa 900 in München. Dass manche nicht an öffentlichen Kundgebungen teilnehmen, kann daran liegen, dass es Konsequenzen für Verwandte in Xinjiang haben könnte. "Natürlich ist da auch Angst. Es kann sein, dass man fotografiert wird und die chinesische Regierung dann schaut, wer das ist und dass die Teilnahme die Familie in der Heimat in Gefahr bringt", sagt Adel Ekrem, 27. Er heißt eigentlich anders, möchte aber lieber anonym bleiben. Sogar in München wurde seine Familie bedroht: "Das Schlimmste, das ich erlebt habe, ist, dass man uns angerufen hat und wir am anderen Ende der Leitung hörten, wie Verwandte gequält wurden", sagt er.

"Alles wird überwacht", sagt Shahnura Kasim. "Wenn Uiguren miteinander telefonieren, dann geht das meist nur mit einer Art Geheimsprache", sagt die 18-Jährige. Als Kind habe sie einmal am Telefon gefragt, warum die Chinesen ihre Verwandten denn nicht ausreisen lassen. Sofort wurde aufgelegt. In einem Video auf Instagram erklärt sie es so: "Man sagt dann zum Beispiel Orangensaft. Und Orangensaft ist gleich Umerziehungslager." Ihren Großvater konnte Shahnura nie kennenlernen. Mit fünf habe sie mit ihm telefoniert. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. "Manchmal habe ich Angst, dass ich seine Stimme vergesse."

Sie will, dass sich endlich etwas ändert. "Wie kann es sein, dass so schreckliche Dinge heute noch passieren und alle wegsehen?" Xinjiang sei eine für China wichtige Region. "Ein Teil der Seidenstraße verläuft durch Ostturkestan. Das Gebiet ist reich an Bodenschätzen. Es gibt deutsche Firmen, die dort ihren Sitz haben. VW zum Beispiel. Niemand kann mir erzählen, dass große Unternehmen keine Ahnung von dem haben, was dort passiert. Sie profitieren von der Zwangsarbeit." Sie wünscht sich mehr Solidarität von der EU. "Man darf die Situation dort nicht vergessen. Gebt den Menschen ihre Rechte wieder. Lasst sie atmen", sagt Shahnura Kasim.

Einmal die Woche geht Shahnura zum Kickboxen. "Als Ausgleich. Da kann man alles rauslassen"

Zwangsarbeit. Folter. Vergewaltigung. Überwachung. Und China? "Die streiten das ab. Es gibt Propaganda auf Social Media, wo gezeigt wird, wie schön das Leben in Xinjiang sein soll", sagt Shahnura. Sie scrollt auf ihrem Handy, zeigt das TikTok-Profil eines Mädchens. Sie nennt sich GuliXinjiang und sagt, dass die Berichte aus Xinjiang einseitig seien und sie deshalb der Welt zeigen möchte, wie gut man in der Provinz lebt. "An ihrer Aussprache bei bestimmten Worten merkt man, dass sie keine Uigurin sein kann. Eher ist sie Chinesin", sagt Shahnura.

Ob sie Angst hat? Das werde sie oft gefragt. "Nein. Ich habe nichts zu befürchten. Aber wenn alle aus Angst leise sind, wird sich nie etwas tun." Nächstes Jahr macht Shahnura ihr Abitur, am Wochenende jobbt sie. Einmal die Woche geht sie zum Kickboxen. "Als Ausgleich. Da kann man alles rauslassen."

Shahnura postet eine Urkunde in ihrer Instagram Story. Für ihr Engagement wurde sie vor Kurzem von ZEIT Campus in die Liste von 30 jungen Menschen aufgenommen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen. "Meine Familie und meine Freunde motivieren mich. Aber auch die Tatsache, dass niemand was macht. Dann muss ich eben aktiv werden." Shahnura Kasim kämpft weiter.

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Die Chiemseefischer, "Bayern. Das Magazin"